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Sebald (in a different kind of alphabet)
Archiv
Das Archiv ist potenziell unendlich, ähnlich wie das Netz, und es schützt und bewahrt alles, was ihm anvertraut wird. Es beschreibt einen Prozess.
Das Archiv ist geordnet und gleichzeitig flexibel. Es erlaubt Bezüge und Beziehungen. Es ist unauffällig und doch geheimnisvoll, da man ihm die Kostbarkeit seines Inhalts nicht unbedingt ansieht.
Die Karteikästen als Teile der Installation archive stehen auch für die Bibliothek, die sich nicht nur in den ausgestellten Buchobjekten ankündigt sondern auch in den Texten in verschiedenen Sprachen – Original und Übersetzung, Buchdruck und Fotokopie. Sie stehen für eine Systematik, die Wiederfinden, Ordnen und Ordnung erlaubt, und sind gleichzeitig Gegenstände aus einer vergangenen Zeit. Damit stehen sie auch für Geschichte und für ewige Präsenz.
Die Schachtel in strahlendem Weiß birgt das Blatt, das die Fotografie und den Text präsentiert wie eine kostbare Miniatur.
Die Ausstellung selbst als imaginäres Archiv, als Widerspruch in sich: Ein temporärer Ort des Bewahrens.
Beziehungen
Zwischen Fotografin und Fotografiertem, Text und Bild, Text und Text, Bild und Bild, Motiv und Komposition. Zwischen Werk und dem es umgebenden Raum. Zwischen Werk und Betrachter, Werk und Betrachterin. Nicht statisch.
Brüche, Fragmente, Ausschnitte
Das Wort, das nichts bedeutet und dennoch fett gedruckt erscheint.
Der Text, der nicht weiter führt .
Das Wort, das in die Irre führt.
Das Zitat, das seinen ursprünglichen Kontext eingebüßt hat.
Der angeschnittene Fuß des ruhenden Menschen.
Die Linien, die sich kreuzen.
Die Ecke des Kellers, der Lager sein kann oder Büro oder Wohnung.
Der Teil einer Wand, der sich spiegelt.
Calvino
Italo Calvino, italienischer Schriftsteller, geboren 1923 in Havanna, Kuba, gestorben 1985 in Siena.
Eleganz
Die Fläche scheint diagonal fast zweigeteilt. Die Übergänge sind fließend. Das Auge ist bemüht die Oberfläche des Bildes und die darunter liegenden Schichten zu erkennen und zu entziffern.
Die malerische Qualität der flach wirkenden Baumkrone.
Schattierungen: fast schwarz-weiß.
Die senkrechten Linien des roten Vorhangstoffs, gekreuzt von den fast waagerechten des Stuhls in hellbraunem Holz.
Der Lichtkegel und sein nur wenig größeres Double.
Emotion
Sie liegt im Ausdruck eines menschlichen Gesichts oder in der Haltung eines Körpers. Sie entsteht im Betrachter, in der Betrachterin durch den Zusammenprall zweier Farben oder durch die Kreuzung zweier Linien an dieser Stelle und keiner anderen.
Der Verlauf einer Geschichte rührt uns zu Tränen, selbst wenn sie bruchstückhaft ist oder ohne innere Logik. Oder gerade deswegen.
Freude und Angst, Sehnsucht und Schrecken.
Emotion wird reduziert durch verschiedene Mittel der Distanzierung: Die englischen Titel der einzelnen Bilder, die englischen Metatexte der Projektion. Die englische, französische und italienische Übersetzung der Zitate, auf die sich einzelne Arbeiten beziehen. Der japanische Sebald.
Das Layout des Zitats auf einem Bogen Papier.
Die Kulisse in falschem Gelb und Rot.
Erinnerung
Sie kann Verlust oder Gewinn bedeuten. Wir können sie bewahren oder verdrängen.
Wir können sie in unser persönliches Archiv aufnehmen. Wir können sie aus ihm ausschließen.
Nie lässt sie uns gleichgültig.
Sie kann auch fiktional sein.
Exil
Der Mensch im Exil erinnert sich ein Leben lang an das Land, die Sprache oder die Menschen, die er verloren hat. Auch verdrängte oder fiktionalisierte Erinnerung ist Erinnerung.
Farbe
Das leuchtende Rot (Red) verlangt die vollkommene Aufmerksamkeit. Es beherrscht seine Umgebung. Es duldet nichts neben sich. Es verlangt die Bereitschaft des Auges, sich auf die Herausforderung einzulassen und in die strahlende, spiegelnde Fläche einzutreten.
Auch das frühlingshafte Grün erregt diese Aufmerksamkeit, aber in anderer Weise: nicht fordernd, sondern selbstverständlich. Bei seinem Anblick breitet sich Ruhe aus, und der Blick richtet sich ein in diesem Grün, von dem man nicht sofort erkennt, was es darstellt. Erst nachdem das Auge die Fläche abgetastet hat, wird die plastische Wirkung des schimmernden Gegenstands sichtbar.
Die Macht der Gelb- und Brauntöne. Sie spielen mit dem Unterbewusstsein des Betrachters, der Betrachterin und ziehen es in ihren Bann.
Fast Schwarz-Weiß
Die Schlichtheit der weißen Textausschnitte auf schwarzem Grund und umgekehrt der schwarzen Textausschnitte auf weißem Grund. Eigentlich sind es Töne in Grau und Weiß, wie man beim genaueren Hinsehen erkennt.
Es gibt keine Schwarz-Weiß-Fotografien hier.
Geheimnisse
Eine kaum sichtbare Figur unterwegs im Irgendwo. Vielleicht auf dem Weg nach Hause, nach der Arbeit oder nach dem Einkauf oder beidem. Oder haben wir es mit einem Fall von Schlaflosigkeit zu tun?
Es ist ein winterlicher Abend und neben der nur vage zu erahnenden Gestalt zeichnen sich mit der Zeit rechts und links Geländer ab, sehr breite Stufen, die den Weg abwärts gliedern, und nach einer Weile tauchen Quadrate aus rötlichem Licht auf: Fenster.
Der Wanderer bleibt stehen und sieht sich um.
Er sieht den Betrachter, die Betrachterin direkt an. Das weiß, das spürt man, auch wenn man es nicht eigentlich sieht.
Der Wanderer, der vorher kräftig ausgeschritten ist, wartet. Das Weitere ist völlig ungewiss. Es kann sein, dass ein Verbrechen geschieht oder dass es schon geschehen ist. Es kann sein, dass nichts geschieht.
Es kann sein
Geschichten
Ein Mann geht eine schmale, steile Treppe hinunter und biegt um die Ecke. Er trägt einen dunkelgrünen Parka und ist kurz davor das Haus zu verlassen. Oder betritt er eine Wohnung?
Ein Mann sitzt an einem Tisch. Sein Gesichtsausdruck ist nachdenklich, fast finster. Still, wie in sich versunken sitzt er da. Wie lange wird er dort verharren?
Ein Mann im hellen Pullover sitzt an einem runden Tisch. Neben ihm türmen sich Bücher und DVDs. Ein leerer Stuhl steht am Tisch. Ein roter Vorhang gibt den Blick frei und nicht frei. Draußen ist heller Tag.
Ein leerer Stuhl. Dahinter das Rot eines zugezogenen Vorhangs. Draußen ist heller Tag.
Ein Mann ist aufgestanden und begibt sich in den hinteren Bereich eines Zimmers. Es ist außer ihm noch jemand da. Der Fernseher läuft. Es ist Abend.
Hotelzimmer
Hotelzimmer nehmen den Gast auf, der sich ausruhen möchte. Der Gast stellt den Koffer ab, er macht ihn auf, nimmt die wenigen Sachen heraus, die er unmittelbar nach der Ankunft braucht, und er macht ihn wieder zu.
Das Glas Wasser erfrischt den Gast, der müde ist von der langen Reise, und ausgetrocknet. Eigentlich war die Reise nicht einmal lang, aber es wurden internationale Grenzen überquert und Höhenunterschiede überwunden, es wurden Kontrollen ertragen und die Unfreundlichkeit des Personals. Die Sterilität des Flughafengebäudes, das damit verbundene Gefühl des Gefangenseins nebst der Unmöglichkeit zu rauchen oder, wenn doch, nur in den unwirtlichsten, schmutzigsten, schlupfwinkelartigsten Ecken, war dem Gast unangenehm.
Das Zimmer entspricht dem üblichen Standard und damit den Vorstellungen. Es ist dem Preis angemessen.
Endlich tritt Ruhe ein. Im Schein der Lampe, die dem Standard entspricht, fallen dem Gast die Augen zu.
Inspiration
Sebald: Ein deutscher Schriftsteller, der in merk-würdigem Stil, in endlosen, verschachtelten Sätzen mit Einsprengseln teils angestaubt, teils kauzig-bizarr wirkenden Vokabulars, mit seitenlangen Zitaten aus Stendhal oder Kafka, Romane verfasst über Melancholiker, Kranke, Suizidgefährdete, einsame Reisende, Außenseiter, Emigranten, Holocaust-Opfer. Über Erinnerungen und falsche Erinnerungen, über Gedächtnis und Verlust.
Sebald: Der seine Leser außer durch seinen Schreibstil auch visuell irritiert, indem er seine Texte, die manche für Fiktion halten, andere für sonderbare Sachtexte, mit mittelmäßigen, grobkörnigen Schwarzweißfotos und anderen Abbildungen von Realien überzieht und damit nicht Erklärung liefert, sondern ihr Gegenteil: Verunsicherung.
Sebald: Der Schriftsteller, der unbeirrt –
M.: Der mich 1998 in Los Angeles auf Sebald aufmerksam macht. Ich lese zwei Romane in englischer Übersetzung, soeben in den USA erschienen. Die Lektüre lässt mich nicht mehr los. Irgendwann, Jahre später, fange ich an, Stellen aus Sebalds Texten mit eigenen Fotografien zu kombinieren. Manche Textpassagen werden zu guten Bekannten.
Inspiration II
Calvino, der seine Visionen von Urbanität in Form eines merkwürdig hybriden Textes Anfang der siebziger Jahre zu Papier bringt. Der seine eigenen verbalen Netze voller sehr bewusster Anspielungen spinnt. Der in seinem die Gattungsgrenzen sprengenden Buch Die unsichtbaren Städte die Poesie der Sprache und das Kalkül einer ausgefeilten Kombinatorik zu einem besonderen Reiz verbindet.
Inspiration III
Das Umherstreifen durch die zeitgenössische Stadt, das Aufspüren und allmähliche Aufdecken der übereinander geschichteten Zeit. Im handgreiflichsten Sinne: Relikte an jeder Häuserwand, auf jedem Bürgersteig, auf fast jedem Straßenschild.
Zeichen überall. Nicht jede, nicht jeder sieht sie.
Das Auge liest die Stadt und ihren Reichtum an Bildern: alte und neue, harmlose und obszöne, angenehme und grausame, frische und angestaubte.
Obsessionen: Suchen und Sehen.
Die Kamera hält etwas fest.
Die Kamera verdeutlicht das Werden und Vergehen.
Installation
Fotografien und Texte gehen mit diversen anderen Gegenständen eine unauflösbare Einheit ein. Die toten Zweige in der schlichten Vase verbinden optisch zwei Fotografien und betonen ihren Charakter als Diptychon. Der Bücherstapel verweist auf die miteinander verwandten Themen des Lesens und Schreibens und auf den Autor, der nicht der Mann im rechten Bild ist. Der Mann, den wir von hinten sehen und der nicht der Autor ist, der also nicht Sebald ist, es aber sein könnte, dieser Mann scheint sich vom Betrachter, der Betrachterin zu entfernen. Seine Bewegung führt aus den Restriktionen der Fläche hinaus und in den vor ihr liegenden Raum hinein.
Licht und Schatten
Die toten Zweige im scharfen Licht erzeugen ihr Ebenbild auf der Fotografie, die ein wirr erscheinendes Geflecht eingefangen hat, aber gleichzeitig gehen sie auch physisch darüber hinaus und erscheinen auf der weißen Wand. Die Schatten verdoppeln sich und irritieren den Betrachter, die Betrachterin, der nicht weiß, die nicht weiß, was Realität des Raums ist und was Realität in der Fläche.
Die Gestalt erscheint wie im Umriss eines Spiegels. Sie betrachtet etwas vor ihr an der Wand. Wir sehen nicht, was es ist.
Die Gestalt verschwindet. Was zurück bleibt sind die in Schatten getauchte Umgebung und die Rundbögen, die eine unsichtbare, weiche Lichtquelle zeichnet.
Die Gestalt erscheint als fast schwarzer Schatten und doch ist sie nicht nur Schatten. Ob sie den Blick dem Betrachter, der Betrachterin zu- oder ob sie sich abwendet, ist nicht klar. Es entsteht der Eindruck eines Sehenden; was er sieht, wissen wir nicht. Es kann sein, dass wir es selbst sind.
Die Gestalt verschwindet.
Makro und Mikro
Ein Gegenstand liegt in der weißen Fläche und wer genau hinsieht, erkennt dahinter noch einen zweiten. Es könnte ein Ei sein, dessen schon aufgebrochener Schale gerade ein mysteriöses Lebewesen entschlüpft.
Es könnte eine Plastik sein, geschaffen von der Hand eines Künstlers, einer Künstlerin.
Es könnte Schnee gefallen sein. Der Boden könnte vereist sein.
Feinfaserige Schwingen breiten sich aus. Sie erscheinen wie die zarten Äste eines Nadelbaums. Es könnten die Beine einer Spinne sein. Es könnte die Vergrößerung einer Feder sein.
Es könnte Schnee gefallen sein.
Der Boden könnte vereist sein.
Es könnte
Material
Die glänzende Oberfläche des Papiers fordert zur Kombination mit Bildern auf, deren Farben sie zum Leuchten bringt, zitiert oder ergänzt. Sie fordert auf zur Berührung.
Das mit Bleistift geschriebene Zitat verbindet sich mit dem stofflichen Grund, der ein besonderer ist.
Das handwerkliche Produkt und die Dauer des Schreibens künden von einer anderen Zeit.
Das Silber des Karteikastens, das strahlende Weiß von Schachtel und Papier akzentuiert die Idee von etwas Kostbarem, aber auch von schlichter Eleganz.
Der reale Zweig verdoppelt und verdreifacht den Schatten des fotografierten Bildes.
Der reale Zweig verbindet zwei Fotografien zu einer visuellen Einheit.
Der reale Zweig bezieht uns ein und macht uns zum Teil einer Installation.
Melancholie
Der einsame Wanderer bei Tag und bei Nacht. Schlaflosigkeit als Motiv?
Der allein am Tisch sitzende Mann, in sich versunken. Denkt er an die Reise, die er gerade hinter sich hat, oder plant er sein weiteres Vorgehen? Die Farben des Zimmers sind warm und angenehm, aber das Gesicht und sein Schweigen scheinen etwas anderes zu meinen.
Der sein Haus verlassende Mann, den wir gerade noch erkennen. Ist er auf der Flucht? Sucht er Gesellschaft? Ist es überhaupt derselbe Mann oder ist es sein Doppelgänger?
Gedämpfte Farben erzeugen ein Gefühl von -
Miniserien
Die kleinste Serie: das Paar. Zwei Fotografien ergänzen sich im Bruchteil einer Sekunde zum Diptychon. Das Auge wandert über die farbigen Flächen auf weißem Grund, dann quer über den Text und schließlich zurück zum Ausgangspunkt, bevor es das nächste Paar in Angriff nimmt. Bild und Bild und Text. Der mit lockerer Hand gekritzelte Bleistifttext als Dritter im Bunde spielt an auf die Spuren, die, obwohl schon halb oder fast ganz wieder ausgelöscht von Wind und Wetter und Autoritäten, Unbekannte in der Stadt hinterlassen haben wie auf den Seiten eines willkürlich aufgeschlagenen Buches.
Calvinos unsichtbare Stadt und ihre Namen und Zeichen , Erinnerungen und Toten.
Calvinos Schichten der Vergangenheit.
Calvinos Visionen der Zukunft.
Calvinos poetische Sachlichkeit.
Nacht
Eine Winterreise.
Netz
Alles ist miteinander verbunden. Die Fotografien untereinander, Fotografien mit anderen Fotografien, Fotografien mit Texten, Texte mit Fotografien und Texte mit anderen Texten. Das eine entsteht aus dem anderen, ohne Logik, aber mit innerer Notwendigkeit.
Es ist alles miteinander verbunden, aber es entsteht auch ständig etwas Neues. Das Netz kreiert sich selbst, indem es sich ständig selbst ergänzt. Das Netz ist ein potenziell unendliches Gewebe, nur zeitweilig begrenzt durch diese Ausstellungsräume jetzt und hier.
Das Netz ist ein Gewebe. Es bedeutet das Gegenteil von Gefangensein; es bedeutet Freiheit. Es ist unendlich fortsetzbar.
Raum
Der Raum ist das Treppenhaus, durch das der Mieter eilt, das Hotelzimmer, in dem der Reisende erschöpft aufs Bett fällt, die Wohnung, in der der Fernseher läuft, der Keller, in dem das Licht so anheimelnd durch die Fensterscheibe fällt, dass manch einer, manch eine dort einziehen möchte.
Der Raum ist die verkehrte Welt des Spiegels, der Hinterausgang des verlassenen Theaters.
Der Raum ist die Stadt, die der Wanderer zu Fuß erforscht; die der Täter braucht, um sein Opfer aufzuspüren; die das Opfer braucht, um sich zu schützen.
Der Raum ist das, was zwischen, über, unter und neben den Verknüpfungspunkten des Netzes liegt. Der Raum bietet alles, innerhalb dessen sich Geschichten erzählen, Bilder Allianzen und Menschen Beziehungen eingehen, wo sich Dimensionen verändern. Der Raum bietet Möglichkeiten.
Der Raum ist das, was zwischen zwei oder mehr Bildern an Bedeutung entsteht.
Der Raum ist das Forum, auf dem jeder Gegenstand seinen auswechselbaren Platz hat.
Der Raum ist das Forum, auf dem jeder Gegenstand seinen unverwechselbaren Platz hat.
Der Raum ist die Zeit.
Der Reisende
Der Reisende betritt den Raum zum ersten Mal und er wird ihn nie wieder betreten.
Er wird ihn immer wieder betreten.
Schönheit
Das sanfte Gelb gedämpften Lichts. Der Schwung der Linie, erzeugt vom Schein der billigen kleinen Lampe an der Wand des Hotelzimmers. Die Symmetrie des doppelten Lichtkegels. Symmetrie – und doch: nicht ganz. Der Rest der Wand im Schatten, nicht schwarz – eine weitere Fläche in Gelb. Die Palette reicht von fast Weiß bis fast Braun.
Schrift
Die vom Regen gezeichnete Schrift. Zufall oder nicht? Realität oder bloße Augentäuschung? Die Erinnerung gibt keinen Aufschluss.
Das Auge lässt sich gern ein auf alles, was es zu sehen meint.
Sebald
W.G. Sebald, geboren 1944 in Wertach, Allgäu, gestorben 2001 an den Folgen eines vermutlich durch Herzinfarkt verursachten Autounfalls in Norfolk, England.
Serien
Die Serie macht die einzelne Fotografie zum Teil eines Ganzen. Sie verdeutlicht – oder verdeutlicht scheinbar – einen Aspekt des Einzelwerks. Sie akzentuiert. Sie suggeriert Bewegung und versetzt den Blick des Betrachters, der Betrachterin in Bewegung. Diese kann fließend sein oder fragmentarisch. Das einzelne Werk ordnet sich unter, aber es verliert nichts.
Die Serie, das Ganze, ist nichts ohne die einzelne Fotografie.
Die Serie kann eine Abfolge von Standfotos sein.
Die Serie kann erzählerisch wirken wie ein Film. Sie kann Protagonisten zeigen, deren Beziehungen und deren Erfahrung. Es kann um Leben und Tod gehen.
Die Serie kann imaginär sein. Red, der Beginn einer imaginären Serie Rot. Almost black and white – der Beginn einer imaginären Serie, von Schwarzweißfotos, die keine sind.
Spiegel und Spiegelungen
Der Spiegel lässt den Blick in einen abgedunkelten Raum schweifen; wie es scheint handelt es sich um ein Arbeitszimmer. Aber wer arbeitet dort, und wer ist der Sehende?
Der Spiegel zeigt einen Mann, der in einem hell erleuchteten Zimmer häuslichen Aktivitäten nachgeht. Wird er sich umdrehen? Und wenn, was oder wen wird er sehen?
Der Spiegel zeigt einen Mann, der an einem Tisch sitzt und seinen Gedanken nachhängt.
Wessen Doppelgänger?
Die Spiegelung scheint die einer mittelalterlichen Stadt mit Spitztürmen, Fachwerkbauten und dem dekorativen Kopfsteinpflaster einer italienischen Piazza. Das allumfassende Rot macht die verzerrten Linien noch unwirklicher und steigert sie ins Märchenhafte. Man glaubt sich vor dem Eingang in eine andere Welt.
Sprache
Sprache als Mittel des Verstehens, des Interpretierens. Sprache als Mittel der Reflexion, der Analyse, der Distanzierung.
Sprache als Mittel des Erzählens. Sprache als Kruste der Emotion.
Sprache als sinnliches Objekt, als Quelle sinnlicher Freude.
Sprache als visueller Reiz.
Sprache als gleichberechtigte Partnerin des Bildes.
Text
Text steht in Beziehung zum Bild.
Der Text ist der eines großen deutschen Schriftstellers mit Namen Sebald.
Der Text ist der eines großen italienischen Schriftstellers in der Version seines deutschen Übersetzers. Sein Name: Calvino.
Die Lektüre, teils zufällig, teils gezielt, erzeugte Epiphanien. Erinnerungen blitzten auf und Textstellen kombinierten sich mit Fotografien. Vergangenes kombinierte sich mit Vergangenem. Wer kennt die Regeln?
Geistesblitze
Textbilder
Der weiße Text auf schwarzem Grund, der schwarze Text auf weißem Grund: Einzelne Wörter in größerem Druck treten hervor. Die Wörter verlieren mit der auffälligen Betonung ihren Sinn. Die Wörter werden zu flächigen Objekten und laden den Betrachter, die Betrachterin ein, mit ihnen zu spielen. Das Netz aus Wörtern weiter zu spinnen.
So entstehen neue Geschichten.
So entstehen immer wieder Teile eines sich ständig weiter fort spinnenden Gewebes.
Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft
Klischee 1: Die Fotografie ist immer schon Vergangenheit. Sie weist immer auf das Vergängliche hin. Es gibt Kritiker, die sagen: Letztlich ist sie der Tod.
Klischee 2: Die Fotografie ist immer Gegenwart. Es gibt Kritiker, die sagen: Sie ist der ewig währende Moment, die unendliche Aktualität.
Klischee 3: Wenn die Fotografie immer Gegenwart ist, dann impliziert sie immer auch schon das Zukünftige.
Frage: -
© Sigrid Ehemann 2011
Begleittext zu "Sebald - Photography / Collage / Installation", Düsseldorf 2011.